Sabine Dramm  

Dietrich Bonhoeffer und Albert Camus:
Analogien im Kontrast

 

„Dietrich Bonhoeffer und Albert Camus? Die Kombination irritiert. Müßte es nicht heißen ‚Dietrich Bonhoeffer oder Albert Camus‘? Geht es nicht in beider Denkweisen um Alternativen, um ein Entweder-Oder der Lebensmöglichkeiten? Schließen sich ihre jeweiligen Erkenntnisse zur Entschlüsselung der Welt und zu Grundfragen des Daseins nicht generell gegenseitig aus? Weisen ihre ethischen Entscheidungen nicht in genau entgegengesetzte Richtungen? So paradox es klingen mag: nein!“, lautet der Beginn meines Buches.

Den Gründen für dieses Nein werden wir heute gemeinsam auf den Grund gehen. Ich werde Sie ein wenig vertraut machen mit einem Zweipersonenstück, dessen Besetzung auf den ersten Blick ungewöhnlich, wenn nicht gar unmöglich erscheint. Aber Sie werden spüren, daß sich im Wechselspiel zwischen Konsens und Dissens bei Bonhoeffer und Camus neue Perspektiven der Einsicht und Weltsicht eröffnen.

Wir werden Bonhoeffer und Camus miteinander – und mit uns selbst – konfrontieren und kombinieren: ihr real gelebtes Leben, ihren Glauben, ihren Unglauben, ihre Lebens- und Todesauffassungen, ihre Konsequenzen für Ethik und Engagement. Wir werden uns auf eine – so hoffe ich – spannende Exkursion in philosophische und theologische Gefilde begeben. Wir werden diesen beiden auf den ersten Blick so konträren Lebensmodellen des 20. Jahrhunderts nachgehen und Pfade zu einer ganz besonderen Art von „Ökumene“ finden (Ökumene heißt ja bekanntlich die „bewohnte Erde“, der „ganze Erdkreis“): zu einer Ökumene der Andersdenkenden. Wir werden einer Ethik der Toleranz begegnen, die darin besteht, uns selbst in Frage zu stellen und offen zu sein für das Andere und die Anderen. Wir werden – so hoffe ich schlußendlich – ermuntert und ermutigt, Dialog und Bündnis mit Menschen zu wagen, die allem Anschein nach (und z.T. auch in der Tat!) ganz anders sind, glauben und fühlen als wir selbst. Wir werden dem Glauben und Unglauben zweier Menschen nachspüren, wie sie allem Anschein nach gegensätzlicher kaum sein konnten.

Was also haben ein Anfang des 20. Jahrhunderts in Breslau (dem heutigen Wroclaw) geborener Theologe und ein nur wenig später in Mondovi (Algerien) geborener Schriftsteller miteinander zu tun? Und was haben wir (hier und heute) mit ihnen zu tun?

„So fern sie einander stehen, so nah sind sie miteinander verwandt“, konstatierte einmal der Geschichtsphilosoph Karl Löwith im Blick auf Karl Marx und Sören Kierkegaard. Treffender kann der Spannungsbogen auch zwischen Bonhoeffer und Camus nicht beschrieben werden. Lichtjahre liegen zwischen ihren Lebenswelten, sowohl derer ihrer Kindheit und Jugend als auch derer ihres – relativ kurzen – Erwachsenendaseins.

Der eine – Sohn eines prominenten Psychiaters, aufgewachsen im großbürgerlichen Milieu der damaligen deutschen Metropole schlechthin, wird 1945 als „Vaterlandsverräter“ erhängt (sein Tod konnte erst nach Wochen mühsam recherchiert und dokumentiert werden). Der andere – Sohn eines mittellosen, nach Algerien gezogenen Franzosen, der nach dessen frühem Kriegstod unter materiell schwierigsten Bedingungen in einem Armenviertel Algiers aufwächst, wird als einer der bis dahin jüngsten Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhalten (die Meldung von seinem Unfalltod 1960 ging in die Schlagzeilen rund um die Welt ein).

 

Trotz dieser Gegensätze gibt es zahlreiche konvergierende Komponenten ihrer konkreten Existenz, die als ‚solidarische Existenz‘ sich am bündigsten beschreiben läßt (freilich nur mit dem Camus'schen Zusatz versehen: „ohne indessen sicher zu sein, ob es heißen sollte ‚solitaire‘ oder ‚solidaire‘“ – einsam oder gemeinsam, ein Leben als Solitär oder solidarisches Leben). Trotz, mehr noch: in der Gegensätzlichkeit ihrer Standorte schälen sich mannigfache Affinitäten heraus, etwa in ihren Reflexionen über den Selbstmord als Freitod, in ihren Suchbewegungen nach der jeweils anderen, sprich: theologischen bzw. philosophischen Wahrheit, in ihrem Lebensempfinden und ihrem Todesverständnis.

Hier einige erste Kostproben. Da ist z.B. die Gratwanderung zwischen „Ablehnen und Bejahen“ (Camus), zwischen „Widerstand und Ergebung“ (Bonhoeffer): „Sich rückhaltlos einsetzen. Und dann mit derselben Kraft das Ja und das Nein annehmen“ – Bonhoeffer oder Camus? „Ausgespannt zwischen dem Nein und dem Ja leben wir nun“ – Camus oder Bonhoeffer? Der eine spricht z.B. von dem Menschen „in dem kalten Schweigen seines ewigen Alleinseins“, der andere von der „Welt, die vernunftwidrig schweigt“. Und dennoch kommen sie nicht los von ihrer Liebe zu dieser Welt: „Wenn es ein Ergebnis oder eine Lehre der Geschichte gibt, so würde ich sie ... die Liebe zum wirklichen Leben nennen“, heißt es bei dem einen; „... wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt, so besteht sie vielleicht nicht so sehr darin, an ihm zu verzweifeln, als darin, auf ein anderes Leben zu hoffen und sich der unerbittlichen Größe dieses Lebens zu entziehen“, ist bei dem anderen zu lesen.

Und für beide ist die Todesfrage die Lebensfrage schlechthin.

Bonhoeffer schreibt zur Jahreswende 1942/43 an seine Gefährten des Widerstands: „Wir können den Tod nicht mehr so hassen, wir haben in seinen Zügen etwas von Güte entdeckt und sind fast ausgesöhnt mit ihm ... Noch lieben wir das Leben, aber ich glaube, der Tod kann uns nicht mehr sehr überraschen ... Nicht die äußeren Umstände, sondern wir selbst werden es sein, die unseren Tod zu dem machen, was er sein kann, zum Tod in freier Einwilligung.“

Von einem, so wörtlich, „Tod in freier Einwilligung“ spricht also Bonhoeffer – „ohne Aufbegehren zu sterben“, sind die letzten Worte des Fragment gebliebenen autobiographischen Romanmanuskripts Camus', das unter dem Titel Der erste Mensch 1994 posthum veröffentlicht wurde. In dessen letztem Absatz beschwört Jacques Cormery, sprich: Albert Camus die Leidenschaft zu leben, auch wenn sie sich dem Tod gegenübersieht, und die Hoffnung, „jene auch in härtesten Situationen gleich starke dunkle Kraft, die ihn so viele Jahre ... uneingeschränkt gestärkt hatte, möge ihm mit der gleichen rastlosen Großzügigkeit, mit der sie ihm Gründe zu leben gegeben hatte, Gründe dafür liefern, alt zu werden und ohne Aufbegehren zu sterben.“

Aber bleiben wir zunächst noch in beider Leben.

Fast zeitgleich geboren, war ihre Kindheit und Jugend geprägt durch einen Zeitbruch, nämlich durch das, was im nachhinein als Erster Weltkrieg in die Geschichte dieses an Kriegen so verheerend reichen Jahrhunderts einging. Bonhoeffers Kindheit und Jugend glich unter bestimmten Aspekten eher einer „jeunesse dorée“ (allerdings einer preußisch-disziplinierten), während die Camus' sich eigentlich ständig am Rande des Existenzminimums bewegte und seit dem 17. Lebensjahr unter der Diagnose der damals noch lebensbedrohlichen Lungentuberkulose stand.

Zwischen den Zeiten, also: zwischen den Kriegen lag die Phase ihrer schulischen und beruflichen Sozialisation (wie wir heute zu sagen pflegen). Es war die schleichende Wucht der dreißiger Jahre im nationalsozialistischen Deutschland und im französisch-kolonialisierten Algerien und endgültig das Trauma des Zweiten Weltkrieges, wodurch sie beide zu Menschen in Widerstand und Revolte wurden, und zwar, altkirchlich gesprochn, „in Gedanken, Worten und Werken“ – und mit tödlichem Ausgang für Bonhoeffer.

Beide waren solidarisch („solidaire“) mit der Welt, in der sie lebten, und mit den Menschen, die nicht für sich selber sprechen konnten. Ihr Mittel: das Wort, die Predigt, der Vortrag, die Rede, die Meditation, die Reportage, der Leitartikel, das Buch, die Briefe, die Tagebücher, die Aufzeichnungen, der Aufruf – immer wieder das Wort. Und der konkrete, nicht zuletzt auch materielle Einsatz in der Existenz des Alltags.

Beide waren Querköpfe, pardon: Querdenker, Einzelgänger, Außenseiter („solitaire“), Bonhoeffer innerhalb der Bekennenden Kirche und auch in der ökumenischen Bewegung, Camus innerhalb der damaligen Linken und auch in der intellektuellen Pariser „scene“. Ihr in jeder Hinsicht unorthodoxes Denken und Tun machte es immer schon schwer, sie mit Etiketten zu versehen und somit ad acta zu legen; es verführte aber auch dazu, daß sie – ungefragt und ungewollt – beliebig vereinnahmt wurden...

Beide waren, wie mir scheint, von ihrer eigenen Sache faszinierte und ihrerseits faszinierende Menschen: der eine als theologischer Lehrer und Unruhestifter in der Bekennenden Kirche, als geduldig-ungeduldiger Vorreiter in der Ökumene und als einsamer Grenzgänger des Widerstandes; der andere als unerbittlicher sozialkritischer Reporter und als mit Worten einmalig malender und mahnender Schriftsteller, als „combattant“ unter falschem Namen in der Résistance und als „l'homme de théâtre“, als passionierter „Theatermensch“.

Beide waren in jeweils ihren Kreisen als „agent provocateur“ im besten Sinn des Wortes tätig – und sie galten in jeweils ihren Kreisen mitunter als „agent provocateur“ im schlechtesten Sinn des Wortes. Sie fühlten sich angezogen auch und gerade von Menschen, die nicht ihren Kreisen zugehörten – Bonhoeffer z.B. von nicht glaubenden Menschen: „Oft frage ich mich, warum mich ein ‚christlicher Instinkt‘ häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht, und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung, sondern ich möchte fast sagen ‚brüderlich‘“; Camus hingegen empfand größte Hochachtung vor praktizierenden Christen: „Ich habe katholische Freunde, und für jene, die es wahrhaftig sind, habe ich mehr als Sympathie, ich empfinde ihnen gegenüber eine Art Verpflichtung. Und zwar deshalb, weil sie sich für dieselben Dinge interessieren wie ich.“ Sie waren spätestens jeweils im Widerstand respektive in der Résistance Bündnispartnern begegnet, in einer behutsamen und intensiven Weise, von der Menschen, die einem weltanschaulichen Lagerdenken verhaftet sind, sich gar keine Vorstellung machen können.

Ihr ganzes Denken und Fühlen zentrierte sich immer wieder mit Leidenschaft und Rationalität um das Leben in dieser Welt – bei Camus, weil es es das einzige war; bei Bonhoeffer, weil es nicht das einzige war. Dieser nur scheinbar paradoxen Parallele entspricht, sozusagen „über Kreuz“, ihre Kontroverse um die Wirklichkeit: Bonhoeffers Theologie des – glaubenden – Lebens, Camus' Philosophie des – absurden – Lebens, und beide waren gezeichnet von einer Liebe zum Leben, von der sie – trotz allem – nicht lassen konnten. Als totaliter aliter, als ganz anders und zugleich doch ganz ähnlich erweist sich sogar die Grundstruktur ihres Glaubens bzw. ihres Nicht-Glaubens, nämlich die konsequent personale Theologie des Protestanten Bonhoeffer und der konsequent existentielle Agnostizismus des Moralisten Camus.

In der „Sache mit Gott“ wird allerdings der Kontrast größer als die Analogie; daran kann, soll, ja: darf gar nicht gerüttelt werden. Dennoch gibt es auch in der Gottesfrage verblüffende Analogien, und zwar in der Art und Weise ihrer Antwort auf sie, nicht im Inhalt ihrer Antwort. Soviel sei hier nur angedeutet:

Die personale Theologie Bonhoeffers fußt darauf, daß die Gottesfrage nur in der zweiten Person gestellt und nur in der zweiten Person beantwortet werden kann – Gott nicht als „höheres Wesen“, nicht als Megaobjekt, nicht als „Ding an sich“, sondern Gott als lebendiges Gegenüber des und der Menschen, die in dieser Welt als mündige Menschen leben (leben können, dürfen und sollen!). Bonhoeffers personale Theologie fußt darauf, daß sie in paradoxer Weise von Gott spricht: Gott ist bei uns in dieser Welt und diesem Leben, auch wenn, mehr noch: dadurch daß er uns verläßt. Und diese Welt und dieses Leben sind es unendlich wert geliebt und gelebt zu werden, weil Gott selbst diese Welt und dieses Leben so liebte, daß er selbst, er persönlich in sie einging und sich mit ihr verbündete.

Der existentielle Agnostizismus Camus' fußt darauf, daß Camus nicht die Existenz Gottes als solche leugnet wie in einem defensiven Atheismus, daß er auch nicht fordert, die Nicht-Existenz Gottes zu behaupten wie in einem offensiven Atheismus – nein, er geht von der Nichterkennbarkeit Gottes aus, nicht von seiner Nicht-Existenz. Insofern: Agnostizismus. Und existentieller Agnostizismus insofern, als er nicht davon ausgeht, daß Gott grundsätzlich nicht erkannt werden könne, sondern daß er Gott nicht habe erkennen, begegnen, erfahren können. Er sei seiner Wirklichkeit nicht teilhaftig geworden und deshalb sei sie in seinem Leben nicht relevant. Deshalb muß er so leben, als gäbe es Gott nicht, denn Gott ist, auch für Camus, eben kein „höheres Wesen“, kein Megaobjekt, kein „Ding an sich“, sondern Gott wäre Gott nur als ein persönliches Gegenüber... siehe oben! „Ich glaube nicht an Gott und ich bin kein Atheist“ – diesem scheinbar paradoxen Camus'schen Credo korrespondiert Bonhoeffers scheinbar paradoxe Aussage: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht“! Bonhoeffer – ein leidenschaftlicher Christ. Camus – ein bekennender Nicht-Christ.

Ganz ähnlich wie mit der Gottesfrage verhält es sich (wie sollte es anders sein?) mit beider Reaktion auf einen gewissen Jesus von Nazareth. Auch hier – trotz manch überraschender Befunde – mehr Kontrast als Analogie. Aber: Den Weg Jesu hätten sie teilen können – exakt bis zum fürchterlichen Ende am Kreuz. Danach hätten sich ihre Wege wieder geteilt, genauer: Ein Danach gab es für Camus nicht. „Er hat seine Todesangst herausgeschrien, und darum liebe ich ihn, meinen Freund, der da starb, mit der Frage auf den Lippen“, schreibt Camus in Der Fall (S. 95; in der französischen Originalfassung heißt es übrigens: „der da starb, ohne zu wissen“). Sein Schrei ist der Schrei eines von Gott und der Welt verlassenen Menschen. In diesem Schrei hört Camus die unlösbare Frage und resonanzlose Anklage des leidenden Menschen: Warum?

Für Bonhoeffer hingegen markiert gerade das Kreuz des Menschen Jesus von Nazareth die Transformation zum Christus. Der fieseste, verächtlichste, gottverlassenste Tod dieses ohnmächtigen Christus ist es, der die Solidaritätserklärung Gottes mit der Welt, mit der ganzen Welt, besiegelt. „Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden...“, schreibt Bonhoeffer in dem Gedicht Christen und Heiden, „Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not ... stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.“ Das Kreuz Jesu Christi ist End- und Ausgangspunkt des Weges Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt.

Und an der Wirklichkeit dieser Welt und dieses Lebens – dieser Welt und dieses Lebens in allen Facetten! – entzündet sich bei beiden eine Liebe, die es in sich hat. Bonhoeffer wie Camus erlebten (vgl. einige der Titel ihrer Schriften) Licht und Schatten, sie erlebten gemeinsames Leben und grauenhafte Einsamkeit in den Zeiten der Pest, sie erlebten das Exil und das Reich.

Ihr Leben spielte sich ganz und gar im Diesseits ab, ohne billige Jenseitsvertröstung bei Bonhoeffer, ohne jede Jenseitsvertröstung bei Camus – für Bonhoeffer logische Folge seiner Theologie, für Camus logische Folge seines Agnostizismus. (Die Verankerung dieser unverbrüchlichen Lebensliebe, die sie trotz allem auch in dunkler Zeit ihres Lebens umspannte, war freilich eine sehr unterschiedliche.) Gemeinsam war ihnen ein Nach-Denken über die Welt und ein Leben in dieser Welt mit Leib und Seele – eine Seinsliebe und Seinszugewandtheit, die nach meinem Dafürhalten in Philosophie und Theologie bis heute ihresgleichen sucht.    

Die herausragendsten Entsprechungen zwischen Bonhoeffer und Camus finden sich zweifellos in ihrer Ethik. Das Außerordentliche liegt dabei darin, daß beide ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Statur sind und aus ganz unterschiedlichen Gründen und Motiven oft zu nahezu übereinstimmenden Konklusionen gelangen, im Grundsatz als auch im Detail und mitunter fast bis in die feinsten Verästelungen und Formulierungen hinein. Hier war es nicht nur die Struktur, nicht nur die Art ihrer Ethik, sondern es war die Sache selbst, der Inhalt, in dem sie sich trafen. Wenn Parallelen Gerade sind, die sich im Unendlichen treffen (so lernten wir im Mathematik-Unterricht), dann haben wir in der Dimension des Ethischen mit Bonhoeffer und Camus Parallelen vor uns, die sich im Endlichen treffen!

Es ist eine genuin autonome Ethik. Sie läßt sich sich nicht in ein Prinzipiengerüst einzwängen. Sie setzt sich der verantwortlichen Intuition aus. Sie bewegt sich mit den Flügeln der Freiheit. Sie wird angetrieben vom Einsatz für die, die sich nicht für sich selbst einsetzen können. Sie riskiert einsame Entschlüsse angesichts der jeweils konkreten Situation. Dennoch wird sie nicht willkürlich und grund-los. Der Grund- und Bodensatz ihrer Ethik, ihre Be-Gründung heißt bei beiden: Liebe, und insofern sind beide bei Augustin in die Lehre gegangen, von dem bekanntlich der Satz stammt: Liebe, und dann tu, was du willst! 

Besonders im Kontext dessen, was heutzutage unter dem Titel „politische Ethik“ verhandelt wird, zeigt sich eine Nähe im Denken und Tun, wie sie sogar selten so zwischen sogenannten Gleichgesinnten zu finden ist. Das überrascht nicht, liegt es doch in der Natur der Sache, daß Protestation – nämlich für das Humane – und Engagement, gekoppelt mit Zivilcourage und Gewaltfreiheit (letztere cum grano salis), immer schon durchaus überraschende Bündnisse evozierten. Das kritische Potential ihres Protestierens ist zudem von einer beißenden Aktualität, und zwar gerade weil sie nicht zeitlos „das Gute und Wahre“ postulierten, sondern gemäß der viel mühseligeren Erkenntnis sprachen und handelten, daß die Wahrheit immer konkret ist.

So sind es denn auch ihre damaligen konkreten Appelle und Aktionen der Unbequemlichkeit und Widerständigkeit, von denen wir für unsere Gegenwart und Zukunft nur lernen können. Zu ihrer Zeit wurde das Antlitz des Menschen vor allem in Gestalt des Antisemitismus, des Kolonialismus, des Faschismus, des Stalinismus oder des – schließlich auch atomaren – Militarismus mit Füßen getreten. Und heute? Und morgen? Zu ihrer Zeit prägten (Originalton Bonhoeffer) „die Zerrissenheit der Menschheit in Völker, nationaler Kampf, der Krieg, die Klassengegensätze, die Ausbeutung der Schwachen durch die Starken“ das Antlitz der Erde, und es ging darum, (Originalton Camus) „nach bestem Können für die zu sprechen, die es nicht vermögen“. Und heute? Und morgen? Zu ihrer Zeit diktierte (wie Camus sagte) die „Händler-Gesellschaft“ die Gesetze des Handelns und (wie Bonhoeffer sagte) die Mechanismen für und durch „die wirtschaftliche Konkurrenz auf Tod und Leben“. Und heute? Und morgen?

Von ihrem jeweiligen – alltäglichen – Sisyphos-Kampf gegen tödliche Menschenfeindschaft in allen Schattierungen können wir für unsere Gegenwart und Zukunft lernen, daß wir uns Sisyphos „als einen glücklichen Menschen vorstellen“ (so Camus), daß es Sinn macht, dem Rad in die Speichen zu fallen (so Bonhoeffer). Das Element der Revolte – Revolte im Sinne von Auflehnung gegen Inhumanität – und das Element der Resistenz – Resistenz im Sinne von beharrlichem Dagegenhalten – scheint bei uns allzu schnell in Resignation und Indifferenz umzuschlagen.

Sich nicht einschüchtern zu lassen durch diese „rasende Welt“ (so Bonhoeffer) und allen Formen der Tyrannei Widerstand entgegenzusetzen (so Camus), gehört zu der konkreten Konsequenz ihrer konkreten Ethik – im Fall Bonhoeffers zu mörderischer Konsequenz. Sie stellt die Transversale eines verbindlichen Einsatzes für andere dar, eingegangen mit dem bewußten Risiko der „complicité“, der Schuldverflochtenheit (und auch in ihr ist das zu erkennen, was Wolfram Schütte einmal – im Blick auf den australischen Gegenwartsschriftsteller David Malouf und Friedrich Hölderlin – mit „Chiffre einer universal vermittelten Koinzidenz“ meinte).

Diese beiden Stimmen, die beide für sich sprachen, jede an ihrem Ort, jede in ihrer Zeit, oft genug aber auch zeitgleich, klangen einander verblüffend ähnlich.

Ein Beispiel: „Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromißlos einzutreten. Und mir scheint, der Friede und die soziale Gerechtigkeit oder eigentlich Christus, sei so etwas“, schreibt Bonhoeffer 1935 an seinen Bruder aus London. Die Größe des Menschen liegt, schreibt Camus 1944 in der Zeitschrift Combat, „in seinem Willen, stärker zu sein als die conditio humana. Und wenn die conditio humana ungerecht ist, hat er nur eine Möglichkeit, sie zu überwinden: indem er selber gerecht ist.“

Ein anderes Beispiel: Camus forderte 1946 bei den Dominikanern in Paris (der Titel seines damaligen Vortrages lautete: Der Ungläubige und die Christen) die Christen zur Kooperation mit den Nicht-Christen auf: „Die Vereinigung, die uns nottut, ist eine Vereinigung von Menschen, die gewillt sind, eine klare Sprache zu sprechen und sich mit ihrer Person einzusetzen.“ Allerdings schränkte er diesbezüglich – in einem Interview 1948 – deutlich ein: „Aber ich werde die Kirche erst dann ernstnehmen, wenn ihre geistlichen Führer die Sprache jedermanns sprechen und selbst das gefährliche und elende Leben der Mehrheit der Menschen leben.“ Bonhoeffer hatte 1943 an sein Patenkind geschrieben: „Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösen, sie die Sprache Jesu...“

Ein drittes Beispiel: Bonhoeffer rief 1934 (!) die weltweite Christenheit dazu auf, sich endlich und eindeutig so zusammenzuschließen, „daß die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muß und daß die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt... Die Völker warten darauf im Osten und Westen.“ Die ganze Spannbreite der Komplizenschaft Bonhoeffers und Camus' gegen den Krieg kommt in Camus' Die Pest zum Ausdruck: „Wir arbeiten miteindander für etwas, das uns jenseits von Lästerung und Gebet vereint. Das allein ist wichtig... Was ich hasse, sind der Tod und das Böse... Und ob Sie es wollen oder nicht, wir stehen zusammen, um beides zu erleiden und zu bekämpfen.“ Diese konkrete Ethik Bonhoeffers und Camus' „jenseits von Lästerung und Gebet“ ist Teil einer ungewöhnlichen Konjunktion des Denkens, die gerade darin sich als so überzeugend und tragfähig erweist, daß sie von jeweils sehr verschiedenen Denkarten und -orten herkommt.

Und das ist der springende Punkt, der Signum eines zukunftsfähigen und gesellschaftlich wie konfessionell unabdingbaren Toleranzverständnisses ist: Daß eine Wahrheit verschieden sich äußern kann, ist uns inzwischen – hoffentlich – vertraut; aber lernen wir auch zu ertragen, daß es verschiedene Wahrheiten gibt, die sich jedoch deckungsgleich manifestieren können und dennoch verschiedene Wahrheiten bleiben? Um Mißverständnisse auszuschließen: Damit sei weder einer neuen Variante von Dogmatismus noch einer postmodernen Beliebigkeit das Wort geredet!

Es geht vielmehr um die Gratwanderung einer vorbehalt- und vorurteilslosen Offenheit auf der Suche nach und in der Auseinandersetzung mit Wahrheit und Wirklichkeit. Aus der Konfrontation zweier so konträrer Menschen, die selbstverständlich die ihnen spezifischen Unterschiede jeweils aushalten und respektieren muß, können Impulse für eine realisierte (und nicht nur deklarierte) Toleranz in jedweder Form von „Ökumene“ ausgehen – Ökumene im klassischen Sinn, Ökumene im interkulturellen und im interreligiösen Sinn, Ökumene als Grenzgängerschaft glaubender und nicht glaubender Menschen. Nur so können Gleichgültigkeit und Ignoranz einerseits, Fundamentalismus und Fanatismus andererseits unterlaufen und zugleich – gewaltfrei – überwunden werden.

Die (damals wahrlich nicht unbedingt zeitgemäße) Dialogfähigkeit und -bereitschaft Bonhoeffers wie Camus' ist ein nicht wegzudenkendes Ferment der von ihnen selbst praktizierten Toleranz. Können Bonhoeffer und Camus – jeder für sich genommen – als Kronzeugen für offenes Denken bzw. offenen Glauben und für eine Ethik der Toleranz herangezogen werden, wieviel mehr können wir aus der Gegenüberstellung dieser beiden Konsequenzen für unsere Gegenwart ziehen!

Indem wir durch eine solche Gegenüberstellung Entsprechungen entdecken, erkennen wir, wie unerwartet nah sich Positionen sein können, die wir als strikt gegensätzliche angenommen hatten. Wir werden unter der Hand für a-doktrinäres Denken und für Differenzierung im Umgang mit „-ismen“ und „-tümern“ sensibilisiert. Unsere je eigenen „Standpunkte“, auf denen wir so gern und so fest stehen, können sich öffnen für die „andere Wahrheit“ als die „Wahrheit des Anderen“. Nur vordergründig wirkt es so, als sei die Fixierung auf Vorurteile gegenüber Angehörigen jeweils anderer „belief-systems“ geringer geworden. (Die in Umlauf befindlichen und oft genug massenmedial fixierten Vorstellungen von den jeweils „anderen“ jeweils neu zu überprüfen, ist eine der zahllosen Sisyphos-Aufgaben – im Präsenz und im Futur... Jürgen Habermas charakterisierte die massenmedial übliche Sprach- und Sichtweise jüngst mit folgenden Worten: „Die Sprache des Marktes dringt heute in alle Poren ein und preßt alle zwischenmenschlichen Beziehungen in das Schema der selbstbezogenen Orientierung an je eigenen Präferenzen.“)

Am Beispiel der Gegenüberstellung unserer beider Protagonisten können wir die Erkenntnis nachvollziehen, daß divergierende Weltsichten dennoch und durchaus zu konvergierendem Denken und Handeln führen können (nicht unbedingt müssen!). Wir können lernen es zu ertragen, es auszuhalten (nämlich: zu tolerieren), daß Wahrheit und Wirklichkeit so und auch anders gedeutet werden können, mehr noch: daß sie immer auch ganz anders möglich sind.

 

Und die Moral von der Geschicht? Das Fazit des Falles „Bonhoeffer/Camus“?

 

(1) Er macht exemplarisch plausibel, daß es Arten der Lebens- und Weltzuwendung gibt, die gegen jede Schematisierung und Stereotypisierung sich sperren.

(2) Er dokumentiert, daß es Arten des Glaubens gibt, die bei und trotz intensiver subjektiver Gewißheit andere Denkmöglichkeiten offensiv akzeptieren.

(3) Er konkretisiert, daß und wie Welt-Anschauung (und zwar persönliche wie insitutionalisierte) jeweils auch ganz anders sich vollziehen kann.

(4) Er demonstriert, daß es konvergente ethische Entscheidungen und Konsequenzen bei und trotz divergenter weltanschaulicher Begründung und Verankerung gibt.

(5) Er konfrontiert mit z. T. diametral verschiedenen Weltdeutungsmustern, denen sich tangierende Handlungsmuster entsprechen.

 

Er macht die Segmente einer aktiven Toleranz transparent, und es ist das Spezifische dieser Toleranz, daß es ihr um die Befreiung von Dogmatismus und Engstirnigkeit jedweder Couleur als Vorbedingung für Eigenständigkeit in Existenz, Erkenntnis, Ethik geht. Kurz: um die Entwicklung zu konstruktiver Autonomie als Basis einer produktiven Toleranz – und umgekehrt. In Pfade in Utopia schrieb Martin Buber: „Man muß bei sich selbst gewesen sein, um zum andern ausgehen zu können.“ Eine solche Toleranz ist zugleich das Gegenteil religiöser Indifferenz und religiöser Gewohnheitsexistenz. Insofern möchte ich an Martin Buber mit Elie Wiesel anschließen: „Gut, ich bin als Jude geboren, aber jeden Tag entscheide ich mich von neuem für meine Religion, erwähle ich mich abermals. Desgleichen kann sich der Katholik, der Moslem, der Buddhist, der Agnostiker oder der Atheist zu seinen Überzeugungen bekennen. Das ist eine Frage des Respekts. Ich achte den Anderen für das, was er ist, wünscht und tut – natürlich unter der Voraussetzung, daß er mich ebenfalls achtet.“ 

Toleranz kann nicht per Edikt dekretiert werden; sie muß be-griffen, um realisiert  werden zu können. Nur dann hat unsere Zukunft eine Chance. Die Menschen werden gemeinsam überleben – oder gar nicht. Insofern sind Toleranz und Offenheit, Dialogizität und solidarische Existenz, Verbündung und Kooperation mit vermeintlichen Gegnern unerläßliche Vorbedingung für „unsere“ Zukunft als die Zukunft der „anderen“ – und umgekehrt.

Auf dem Weg dahin stoßen wir auf einen Anfang dieses Jahrhunderts in Breslau/Wroclaw geborenen Theologen und einen nur wenig später in Mondovi (Algerien) geborenen Schriftsteller und ihr eigen- und einzigartig ermutigendes Zwiegespräch.

Zu einer wirklichen „Kooperation“ zwischen Christen und Nicht-Christen, wie Bonhoeffer sie 1943 forderte, zu einem wirklichen „Zwiegespräch“, wie Camus es 1946 mit den Christen zu führen erhoffte, kam es zu ihrer Zeit jedoch noch nicht. Aber ihre Erwartung der Welt an die zukünftige Kirche entsprach einander. Bonhoeffer konnte sie nur kontrastieren mit der Schuld, die er 1940 stellvertretend für seine Kirche rückhaltlos bekannte: „Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie. Sie hat das rechte Wort in rechter Weise zu rechter Zeit nicht gefunden... Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß und Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi.“

Der Kreis schließt sich. Zum Schluß meines Vortrages nämlich komme ich zum Schluß meines Buches. Er lautet: „... durch die Nähe dieser Aussagen findet sich auch die Antwort auf die Frage des Anfangs ... bestätigt: Bonhoeffer oder Camus? Bonhoeffer und Camus!“

 

© S. Dramm, november 2001.