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Sabine
Dramm
Dietrich
Bonhoeffer und Albert Camus:
Analogien
im Kontrast
„Dietrich
Bonhoeffer und Albert Camus? Die Kombination irritiert. Müßte
es nicht heißen ‚Dietrich Bonhoeffer oder Albert Camus‘?
Geht es nicht in beider Denkweisen um Alternativen, um ein
Entweder-Oder der Lebensmöglichkeiten? Schließen sich ihre
jeweiligen Erkenntnisse zur Entschlüsselung der Welt und zu
Grundfragen des Daseins nicht generell gegenseitig aus? Weisen ihre
ethischen Entscheidungen nicht in genau entgegengesetzte Richtungen?
So paradox es klingen mag: nein!“, lautet der Beginn meines Buches.
Den
Gründen für dieses Nein werden wir heute gemeinsam auf den Grund
gehen. Ich werde Sie ein wenig vertraut machen mit einem
Zweipersonenstück, dessen Besetzung auf den ersten Blick ungewöhnlich,
wenn nicht gar unmöglich erscheint. Aber Sie werden spüren, daß
sich im Wechselspiel zwischen Konsens und Dissens bei Bonhoeffer und
Camus neue Perspektiven der Einsicht und Weltsicht eröffnen.
Wir
werden Bonhoeffer und Camus miteinander – und mit uns selbst –
konfrontieren und kombinieren: ihr real gelebtes Leben, ihren Glauben,
ihren Unglauben, ihre Lebens- und Todesauffassungen, ihre Konsequenzen
für Ethik und Engagement. Wir werden uns auf eine – so hoffe ich
– spannende Exkursion in philosophische und theologische Gefilde
begeben. Wir werden diesen beiden auf den ersten Blick so konträren
Lebensmodellen des 20. Jahrhunderts nachgehen und Pfade zu einer ganz
besonderen Art von „Ökumene“ finden (Ökumene heißt ja
bekanntlich die „bewohnte Erde“, der „ganze Erdkreis“):
zu einer Ökumene der Andersdenkenden. Wir werden einer Ethik der
Toleranz begegnen, die darin besteht, uns selbst in Frage zu stellen
und offen zu sein für das Andere und die Anderen. Wir werden – so
hoffe ich schlußendlich – ermuntert und ermutigt, Dialog und Bündnis
mit Menschen zu wagen, die allem Anschein nach (und z.T. auch in der
Tat!) ganz anders sind, glauben und fühlen als wir selbst. Wir
werden dem Glauben und Unglauben zweier Menschen nachspüren, wie sie
allem Anschein nach gegensätzlicher kaum sein konnten.
Was
also haben ein Anfang des 20. Jahrhunderts in Breslau (dem heutigen
Wroclaw) geborener Theologe und ein nur wenig später in Mondovi
(Algerien) geborener Schriftsteller miteinander zu tun? Und was haben
wir (hier und heute) mit ihnen zu tun?
„So fern
sie einander stehen, so nah sind sie miteinander verwandt“,
konstatierte einmal der Geschichtsphilosoph Karl Löwith im Blick auf
Karl Marx und Sören Kierkegaard. Treffender kann der Spannungsbogen
auch zwischen Bonhoeffer und Camus nicht beschrieben werden.
Lichtjahre liegen zwischen ihren Lebenswelten, sowohl derer ihrer
Kindheit und Jugend als auch derer ihres – relativ kurzen –
Erwachsenendaseins.
Der eine –
Sohn eines prominenten Psychiaters, aufgewachsen im großbürgerlichen
Milieu der damaligen deutschen Metropole schlechthin, wird 1945 als
„Vaterlandsverräter“ erhängt (sein Tod konnte erst nach Wochen mühsam
recherchiert und dokumentiert werden). Der andere – Sohn eines
mittellosen, nach Algerien gezogenen Franzosen, der nach dessen frühem
Kriegstod unter materiell schwierigsten Bedingungen in einem
Armenviertel Algiers aufwächst, wird als einer der bis dahin jüngsten
Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhalten (die Meldung von
seinem Unfalltod 1960 ging in die Schlagzeilen rund um die Welt ein).
Trotz
dieser Gegensätze gibt es zahlreiche konvergierende Komponenten ihrer
konkreten Existenz, die als ‚solidarische Existenz‘ sich am bündigsten
beschreiben läßt (freilich nur mit dem Camus'schen Zusatz versehen:
„ohne indessen sicher zu sein, ob es heißen sollte ‚solitaire‘
oder ‚solidaire‘“ – einsam oder gemeinsam, ein Leben
als Solitär oder solidarisches Leben). Trotz, mehr noch: in der
Gegensätzlichkeit ihrer Standorte schälen sich mannigfache Affinitäten
heraus, etwa in ihren Reflexionen über den Selbstmord als Freitod, in
ihren Suchbewegungen nach der jeweils anderen, sprich: theologischen
bzw. philosophischen Wahrheit, in ihrem Lebensempfinden und ihrem
Todesverständnis.
Hier
einige erste Kostproben. Da ist z.B. die Gratwanderung zwischen
„Ablehnen und Bejahen“ (Camus), zwischen „Widerstand und
Ergebung“ (Bonhoeffer): „Sich rückhaltlos einsetzen. Und dann mit
derselben Kraft das Ja und das Nein annehmen“ – Bonhoeffer oder
Camus? „Ausgespannt zwischen dem Nein und dem Ja leben wir nun“
– Camus oder Bonhoeffer? Der eine spricht z.B. von dem Menschen
„in dem kalten Schweigen seines ewigen Alleinseins“, der andere
von der „Welt, die vernunftwidrig schweigt“. Und dennoch kommen
sie nicht los von ihrer Liebe zu dieser Welt: „Wenn es ein Ergebnis
oder eine Lehre der Geschichte gibt, so würde ich sie ... die Liebe
zum wirklichen Leben nennen“, heißt es bei dem einen; „... wenn
es eine Sünde gegen das Leben gibt, so besteht sie vielleicht nicht
so sehr darin, an ihm zu verzweifeln, als darin, auf ein anderes Leben
zu hoffen und sich der unerbittlichen Größe dieses Lebens zu
entziehen“, ist bei dem anderen zu lesen.
Und
für beide ist die Todesfrage die Lebensfrage schlechthin.
Bonhoeffer
schreibt zur Jahreswende 1942/43 an seine Gefährten des Widerstands:
„Wir können den Tod nicht mehr so hassen, wir haben in seinen Zügen
etwas von Güte entdeckt und sind fast ausgesöhnt mit ihm ... Noch
lieben wir das Leben, aber ich glaube, der Tod kann uns nicht mehr
sehr überraschen ... Nicht die äußeren Umstände, sondern wir
selbst werden es sein, die unseren Tod zu dem machen, was er sein
kann, zum Tod in freier Einwilligung.“
Von
einem, so wörtlich, „Tod in freier Einwilligung“ spricht also
Bonhoeffer – „ohne Aufbegehren zu sterben“, sind die letzten
Worte des Fragment gebliebenen autobiographischen Romanmanuskripts
Camus', das unter dem Titel Der erste Mensch 1994 posthum veröffentlicht
wurde. In dessen letztem Absatz beschwört Jacques Cormery, sprich:
Albert Camus die Leidenschaft zu leben, auch wenn sie sich dem Tod
gegenübersieht, und die Hoffnung, „jene auch in härtesten
Situationen gleich starke dunkle Kraft, die ihn so viele Jahre ...
uneingeschränkt gestärkt hatte, möge ihm mit der gleichen rastlosen
Großzügigkeit, mit der sie ihm Gründe zu leben gegeben hatte, Gründe
dafür liefern, alt zu werden und ohne Aufbegehren zu sterben.“
Aber
bleiben wir zunächst noch in beider Leben.
Fast
zeitgleich geboren, war ihre Kindheit und Jugend geprägt durch einen
Zeitbruch, nämlich durch das, was im nachhinein als Erster Weltkrieg
in die Geschichte dieses an Kriegen so verheerend reichen Jahrhunderts
einging. Bonhoeffers Kindheit und Jugend glich unter bestimmten
Aspekten eher einer „jeunesse dorée“ (allerdings einer preußisch-disziplinierten),
während die Camus' sich eigentlich ständig am Rande des
Existenzminimums bewegte und seit dem 17. Lebensjahr unter der
Diagnose der damals noch lebensbedrohlichen Lungentuberkulose stand.
Zwischen
den Zeiten, also: zwischen den Kriegen lag die Phase ihrer schulischen
und beruflichen Sozialisation (wie wir heute zu sagen pflegen). Es war
die schleichende Wucht der dreißiger Jahre im nationalsozialistischen
Deutschland und im französisch-kolonialisierten Algerien und endgültig
das Trauma des Zweiten Weltkrieges, wodurch sie beide zu Menschen in
Widerstand und Revolte wurden, und zwar, altkirchlich gesprochn, „in
Gedanken, Worten und Werken“ – und mit tödlichem Ausgang für
Bonhoeffer.
Beide
waren solidarisch („solidaire“) mit der Welt, in der sie lebten,
und mit den Menschen, die nicht für sich selber sprechen konnten. Ihr
Mittel: das Wort, die Predigt, der Vortrag, die Rede, die Meditation,
die Reportage, der Leitartikel, das Buch, die Briefe, die Tagebücher,
die Aufzeichnungen, der Aufruf – immer wieder das Wort. Und der
konkrete, nicht zuletzt auch materielle Einsatz in der Existenz des
Alltags.
Beide
waren Querköpfe, pardon: Querdenker, Einzelgänger, Außenseiter
(„solitaire“), Bonhoeffer innerhalb der Bekennenden Kirche und
auch in der ökumenischen Bewegung, Camus innerhalb der damaligen
Linken und auch in der intellektuellen Pariser „scene“. Ihr in
jeder Hinsicht unorthodoxes Denken und Tun machte es immer schon
schwer, sie mit Etiketten zu versehen und somit ad acta zu legen; es
verführte aber auch dazu, daß sie – ungefragt und ungewollt –
beliebig vereinnahmt wurden...
Beide
waren, wie mir scheint, von ihrer eigenen Sache faszinierte und
ihrerseits faszinierende Menschen: der eine als theologischer Lehrer
und Unruhestifter in der Bekennenden Kirche, als geduldig-ungeduldiger
Vorreiter in der Ökumene und als einsamer Grenzgänger des
Widerstandes; der andere als unerbittlicher sozialkritischer Reporter
und als mit Worten einmalig malender und mahnender Schriftsteller, als
„combattant“ unter falschem Namen in der Résistance und als
„l'homme de théâtre“, als passionierter „Theatermensch“.
Beide
waren in jeweils ihren Kreisen als „agent provocateur“ im besten
Sinn des Wortes tätig – und sie galten in jeweils ihren Kreisen
mitunter als „agent provocateur“ im schlechtesten Sinn des Wortes.
Sie fühlten sich angezogen auch und gerade von Menschen, die nicht
ihren Kreisen zugehörten – Bonhoeffer z.B. von nicht glaubenden
Menschen: „Oft frage ich mich, warum mich ein ‚christlicher
Instinkt‘ häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen
zieht, und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung,
sondern ich möchte fast sagen ‚brüderlich‘“; Camus hingegen
empfand größte Hochachtung vor praktizierenden Christen: „Ich habe
katholische Freunde, und für jene, die es wahrhaftig sind, habe ich
mehr als Sympathie, ich empfinde ihnen gegenüber eine Art
Verpflichtung. Und zwar deshalb, weil sie sich für dieselben Dinge
interessieren wie ich.“ Sie waren spätestens jeweils im Widerstand
respektive in der Résistance Bündnispartnern begegnet, in einer
behutsamen und intensiven Weise, von der Menschen, die einem
weltanschaulichen Lagerdenken verhaftet sind, sich gar keine
Vorstellung machen können.
Ihr
ganzes Denken und Fühlen zentrierte sich immer wieder mit
Leidenschaft und Rationalität um das Leben in dieser Welt –
bei Camus, weil es es das einzige war; bei Bonhoeffer, weil es nicht
das einzige war. Dieser nur scheinbar paradoxen Parallele entspricht,
sozusagen „über Kreuz“, ihre Kontroverse um die Wirklichkeit:
Bonhoeffers Theologie des – glaubenden – Lebens, Camus'
Philosophie des – absurden – Lebens, und beide waren gezeichnet
von einer Liebe zum Leben, von der sie – trotz allem – nicht
lassen konnten. Als totaliter aliter, als ganz anders und zugleich
doch ganz ähnlich erweist sich sogar die Grundstruktur ihres Glaubens
bzw. ihres Nicht-Glaubens, nämlich die konsequent personale Theologie
des Protestanten Bonhoeffer und der konsequent existentielle
Agnostizismus des Moralisten Camus.
In
der „Sache mit Gott“ wird allerdings der Kontrast größer als die
Analogie; daran kann, soll, ja: darf gar nicht gerüttelt werden.
Dennoch gibt es auch in der Gottesfrage verblüffende Analogien, und
zwar in der Art und Weise ihrer Antwort auf sie, nicht im Inhalt ihrer
Antwort. Soviel sei hier nur angedeutet:
Die
personale Theologie Bonhoeffers fußt darauf, daß die Gottesfrage nur
in der zweiten Person gestellt und nur in der zweiten Person
beantwortet werden kann – Gott nicht als „höheres Wesen“, nicht
als Megaobjekt, nicht als „Ding an sich“, sondern Gott als
lebendiges Gegenüber des und der Menschen, die in dieser Welt als mündige
Menschen leben (leben können, dürfen und sollen!). Bonhoeffers
personale Theologie fußt darauf, daß sie in paradoxer Weise von Gott
spricht: Gott ist bei uns in dieser Welt und diesem Leben, auch wenn,
mehr noch: dadurch daß er uns verläßt. Und diese Welt und
dieses Leben sind es unendlich wert geliebt und gelebt zu werden, weil
Gott selbst diese Welt und dieses Leben so liebte, daß er selbst, er persönlich
in sie einging und sich mit ihr verbündete.
Der
existentielle Agnostizismus Camus' fußt darauf, daß Camus nicht die
Existenz Gottes als solche leugnet wie in einem defensiven Atheismus,
daß er auch nicht fordert, die Nicht-Existenz Gottes zu behaupten wie
in einem offensiven Atheismus – nein, er geht von der
Nichterkennbarkeit Gottes aus, nicht von seiner Nicht-Existenz.
Insofern: Agnostizismus. Und existentieller Agnostizismus insofern,
als er nicht davon ausgeht, daß Gott grundsätzlich nicht erkannt
werden könne, sondern daß er Gott nicht habe erkennen,
begegnen, erfahren können. Er sei seiner Wirklichkeit nicht
teilhaftig geworden und deshalb sei sie in seinem Leben nicht
relevant. Deshalb muß er so leben, als gäbe es Gott nicht, denn Gott
ist, auch für Camus, eben kein „höheres Wesen“, kein Megaobjekt,
kein „Ding an sich“, sondern Gott wäre Gott nur als ein persönliches
Gegenüber... siehe oben! „Ich glaube nicht an Gott und ich
bin kein Atheist“ – diesem scheinbar paradoxen Camus'schen Credo
korrespondiert Bonhoeffers scheinbar paradoxe Aussage: „Einen Gott,
den ‚es gibt‘, gibt es nicht“! Bonhoeffer – ein
leidenschaftlicher Christ. Camus – ein bekennender Nicht-Christ.
Ganz
ähnlich wie mit der Gottesfrage verhält es sich (wie sollte es
anders sein?) mit beider Reaktion auf einen gewissen Jesus von
Nazareth. Auch hier – trotz manch überraschender Befunde – mehr
Kontrast als Analogie. Aber: Den Weg Jesu hätten sie teilen können
– exakt bis zum fürchterlichen Ende am Kreuz. Danach hätten sich
ihre Wege wieder geteilt, genauer: Ein Danach gab es für Camus nicht.
„Er hat seine Todesangst herausgeschrien, und darum liebe ich ihn,
meinen Freund, der da starb, mit der Frage auf den Lippen“, schreibt
Camus in Der Fall (S. 95; in der französischen Originalfassung
heißt es übrigens: „der da starb, ohne zu wissen“). Sein Schrei
ist der Schrei eines von Gott und der Welt verlassenen Menschen. In
diesem Schrei hört Camus die unlösbare Frage und resonanzlose
Anklage des leidenden Menschen: Warum?
Für
Bonhoeffer hingegen markiert gerade das Kreuz des Menschen Jesus von
Nazareth die Transformation zum Christus. Der fieseste, verächtlichste,
gottverlassenste Tod dieses ohnmächtigen Christus ist es, der die
Solidaritätserklärung Gottes mit der Welt, mit der ganzen Welt,
besiegelt. „Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden...“,
schreibt Bonhoeffer in dem Gedicht Christen und Heiden, „Gott
geht zu allen Menschen in ihrer Not ... stirbt für Christen und
Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.“ Das Kreuz Jesu
Christi ist End- und Ausgangspunkt des Weges Gottes in die
Wirklichkeit dieser Welt.
Und
an der Wirklichkeit dieser Welt und dieses Lebens – dieser Welt und
dieses Lebens in allen Facetten! – entzündet sich bei beiden
eine Liebe, die es in sich hat. Bonhoeffer wie Camus erlebten (vgl.
einige der Titel ihrer Schriften) Licht und Schatten, sie
erlebten gemeinsames Leben und grauenhafte Einsamkeit in den
Zeiten der Pest, sie erlebten das Exil und das Reich.
Ihr
Leben spielte sich ganz und gar im Diesseits ab, ohne billige
Jenseitsvertröstung bei Bonhoeffer, ohne jede Jenseitsvertröstung
bei Camus – für Bonhoeffer logische Folge seiner Theologie, für
Camus logische Folge seines Agnostizismus. (Die Verankerung dieser
unverbrüchlichen Lebensliebe, die sie trotz allem auch in dunkler
Zeit ihres Lebens umspannte, war freilich eine sehr unterschiedliche.)
Gemeinsam war ihnen ein Nach-Denken über die Welt und ein Leben in
dieser Welt mit Leib und Seele – eine Seinsliebe und
Seinszugewandtheit, die nach meinem Dafürhalten in Philosophie und
Theologie bis heute ihresgleichen sucht.
Die
herausragendsten Entsprechungen zwischen Bonhoeffer und Camus finden
sich zweifellos in ihrer Ethik. Das Außerordentliche liegt dabei
darin, daß beide ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Statur sind
und aus ganz unterschiedlichen Gründen und Motiven oft zu nahezu übereinstimmenden
Konklusionen gelangen, im Grundsatz als auch im Detail und mitunter
fast bis in die feinsten Verästelungen und Formulierungen hinein.
Hier war es nicht nur die Struktur, nicht nur die Art ihrer Ethik,
sondern es war die Sache selbst, der Inhalt, in dem sie sich trafen.
Wenn Parallelen Gerade sind, die sich im Unendlichen treffen (so
lernten wir im Mathematik-Unterricht), dann haben wir in der Dimension
des Ethischen mit Bonhoeffer und Camus Parallelen vor uns, die sich im
Endlichen treffen!
Es
ist eine genuin autonome Ethik. Sie läßt sich sich nicht in ein
Prinzipiengerüst einzwängen. Sie setzt sich der verantwortlichen
Intuition aus. Sie bewegt sich mit den Flügeln der Freiheit. Sie wird
angetrieben vom Einsatz für die, die sich nicht für sich selbst
einsetzen können. Sie riskiert einsame Entschlüsse angesichts der
jeweils konkreten Situation. Dennoch wird sie nicht willkürlich und
grund-los. Der Grund- und Bodensatz ihrer Ethik, ihre Be-Gründung heißt
bei beiden: Liebe, und insofern sind beide bei Augustin in die Lehre
gegangen, von dem bekanntlich der Satz stammt: Liebe, und dann tu, was
du willst!
Besonders
im Kontext dessen, was heutzutage unter dem Titel „politische
Ethik“ verhandelt wird, zeigt sich eine Nähe im Denken und Tun, wie
sie sogar selten so zwischen sogenannten Gleichgesinnten zu
finden ist. Das überrascht nicht, liegt es doch in der Natur der
Sache, daß Protestation – nämlich für das Humane
– und Engagement, gekoppelt mit Zivilcourage und Gewaltfreiheit
(letztere cum grano salis), immer schon durchaus überraschende Bündnisse
evozierten. Das kritische Potential ihres Protestierens ist zudem von
einer beißenden Aktualität, und zwar gerade weil sie nicht zeitlos
„das Gute und Wahre“ postulierten, sondern gemäß der viel mühseligeren
Erkenntnis sprachen und handelten, daß die Wahrheit immer konkret
ist.
So
sind es denn auch ihre damaligen konkreten Appelle und Aktionen der
Unbequemlichkeit und Widerständigkeit, von denen wir für unsere
Gegenwart und Zukunft nur lernen können. Zu ihrer Zeit wurde
das Antlitz des Menschen vor allem in Gestalt des Antisemitismus, des
Kolonialismus, des Faschismus, des Stalinismus oder des – schließlich
auch atomaren – Militarismus mit Füßen getreten. Und heute? Und
morgen? Zu ihrer Zeit prägten (Originalton Bonhoeffer) „die
Zerrissenheit der Menschheit in Völker, nationaler Kampf, der Krieg,
die Klassengegensätze, die Ausbeutung der Schwachen durch die
Starken“ das Antlitz der Erde, und es ging darum, (Originalton
Camus) „nach bestem Können für die zu sprechen, die es nicht vermögen“.
Und heute? Und morgen? Zu ihrer Zeit diktierte (wie Camus
sagte) die „Händler-Gesellschaft“ die Gesetze des Handelns und
(wie Bonhoeffer sagte) die Mechanismen für und durch „die
wirtschaftliche Konkurrenz auf Tod und Leben“. Und heute? Und
morgen?
Von
ihrem jeweiligen – alltäglichen – Sisyphos-Kampf gegen tödliche
Menschenfeindschaft in allen Schattierungen können wir für unsere
Gegenwart und Zukunft lernen, daß wir uns Sisyphos „als einen glücklichen
Menschen vorstellen“ (so Camus), daß es Sinn macht, dem Rad in die
Speichen zu fallen (so Bonhoeffer). Das Element der Revolte –
Revolte im Sinne von Auflehnung gegen Inhumanität – und das Element
der Resistenz – Resistenz im Sinne von beharrlichem Dagegenhalten
– scheint bei uns allzu schnell in Resignation und Indifferenz
umzuschlagen.
Sich
nicht einschüchtern zu lassen durch diese „rasende Welt“ (so
Bonhoeffer) und allen Formen der Tyrannei Widerstand
entgegenzusetzen (so Camus), gehört zu der konkreten Konsequenz ihrer
konkreten Ethik – im Fall Bonhoeffers zu mörderischer Konsequenz.
Sie stellt die Transversale eines verbindlichen Einsatzes für andere
dar, eingegangen mit dem bewußten Risiko der „complicité“, der
Schuldverflochtenheit (und auch in ihr ist das zu erkennen, was
Wolfram Schütte einmal – im Blick auf den australischen
Gegenwartsschriftsteller David Malouf und Friedrich Hölderlin – mit
„Chiffre einer universal vermittelten Koinzidenz“ meinte).
Diese
beiden Stimmen, die beide für sich sprachen, jede an ihrem Ort, jede
in ihrer Zeit, oft genug aber auch zeitgleich, klangen einander verblüffend
ähnlich.
Ein
Beispiel: „Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt,
kompromißlos einzutreten. Und mir scheint, der Friede und die soziale
Gerechtigkeit oder eigentlich Christus, sei so etwas“, schreibt
Bonhoeffer 1935 an seinen Bruder aus London. Die Größe des Menschen
liegt, schreibt Camus 1944 in der Zeitschrift Combat, „in
seinem Willen, stärker zu sein als die conditio humana. Und wenn die
conditio humana ungerecht ist, hat er nur eine Möglichkeit, sie zu überwinden:
indem er selber gerecht ist.“
Ein
anderes Beispiel: Camus forderte 1946 bei den Dominikanern in Paris
(der Titel seines damaligen Vortrages lautete: Der Ungläubige
und die Christen) die Christen zur Kooperation mit den
Nicht-Christen auf: „Die Vereinigung, die uns nottut, ist eine
Vereinigung von Menschen, die gewillt sind, eine klare Sprache zu
sprechen und sich mit ihrer Person einzusetzen.“ Allerdings schränkte
er diesbezüglich – in einem Interview 1948 – deutlich ein:
„Aber ich werde die Kirche erst dann ernstnehmen, wenn ihre
geistlichen Führer die Sprache jedermanns sprechen und selbst das gefährliche
und elende Leben der Mehrheit der Menschen leben.“ Bonhoeffer hatte
1943 an sein Patenkind geschrieben: „Es ist nicht unsere Sache, den
Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder
Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich
die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache
sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösen, sie
die Sprache Jesu...“
Ein
drittes Beispiel: Bonhoeffer rief 1934 (!) die weltweite Christenheit
dazu auf, sich endlich und eindeutig so zusammenzuschließen, „daß
die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muß und daß
die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im
Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg
verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt...
Die Völker warten darauf im Osten und Westen.“ Die ganze
Spannbreite der Komplizenschaft Bonhoeffers und Camus' gegen den Krieg
kommt in Camus' Die Pest zum Ausdruck: „Wir arbeiten
miteindander für etwas, das uns jenseits von Lästerung und Gebet
vereint. Das allein ist wichtig... Was ich hasse, sind der Tod und das
Böse... Und ob Sie es wollen oder nicht, wir stehen zusammen, um
beides zu erleiden und zu bekämpfen.“ Diese konkrete Ethik
Bonhoeffers und Camus' „jenseits von Lästerung und Gebet“
ist Teil einer ungewöhnlichen Konjunktion des Denkens, die gerade
darin sich als so überzeugend und tragfähig erweist, daß sie von
jeweils sehr verschiedenen Denkarten und -orten herkommt.
Und
das ist der springende Punkt, der Signum eines zukunftsfähigen und
gesellschaftlich wie konfessionell unabdingbaren Toleranzverständnisses
ist: Daß eine Wahrheit verschieden sich äußern kann, ist uns
inzwischen – hoffentlich – vertraut; aber lernen wir auch zu
ertragen, daß es verschiedene Wahrheiten gibt, die sich jedoch
deckungsgleich manifestieren können und dennoch verschiedene
Wahrheiten bleiben? Um Mißverständnisse auszuschließen:
Damit sei weder einer neuen Variante von Dogmatismus noch einer
postmodernen Beliebigkeit das Wort geredet!
Es
geht vielmehr um die Gratwanderung einer vorbehalt- und
vorurteilslosen Offenheit auf der Suche nach und in der
Auseinandersetzung mit Wahrheit und Wirklichkeit. Aus der
Konfrontation zweier so konträrer Menschen, die selbstverständlich
die ihnen spezifischen Unterschiede jeweils aushalten und respektieren
muß, können Impulse für eine realisierte (und nicht nur
deklarierte) Toleranz in jedweder Form von „Ökumene“ ausgehen –
Ökumene im klassischen Sinn, Ökumene im interkulturellen und im
interreligiösen Sinn, Ökumene als Grenzgängerschaft glaubender und
nicht glaubender Menschen. Nur so können Gleichgültigkeit und
Ignoranz einerseits, Fundamentalismus und Fanatismus andererseits
unterlaufen und zugleich – gewaltfrei – überwunden werden.
Die
(damals wahrlich nicht unbedingt zeitgemäße) Dialogfähigkeit und
-bereitschaft Bonhoeffers wie Camus' ist ein nicht wegzudenkendes
Ferment der von ihnen selbst praktizierten Toleranz. Können
Bonhoeffer und Camus – jeder für sich genommen – als Kronzeugen für
offenes Denken bzw. offenen Glauben und für eine Ethik der Toleranz
herangezogen werden, wieviel mehr können wir aus der Gegenüberstellung
dieser beiden Konsequenzen für unsere Gegenwart ziehen!
Indem
wir durch eine solche Gegenüberstellung Entsprechungen entdecken,
erkennen wir, wie unerwartet nah sich Positionen sein können, die wir
als strikt gegensätzliche angenommen hatten. Wir werden unter der
Hand für a-doktrinäres Denken und für Differenzierung im Umgang mit
„-ismen“ und „-tümern“ sensibilisiert. Unsere je eigenen
„Standpunkte“, auf denen wir so gern und so fest stehen, können
sich öffnen für die „andere Wahrheit“ als die „Wahrheit des
Anderen“. Nur vordergründig wirkt es so, als sei die Fixierung auf
Vorurteile gegenüber Angehörigen jeweils anderer
„belief-systems“ geringer geworden. (Die in Umlauf befindlichen
und oft genug massenmedial fixierten Vorstellungen von den jeweils
„anderen“ jeweils neu zu überprüfen, ist eine der zahllosen
Sisyphos-Aufgaben – im Präsenz und im Futur... Jürgen Habermas
charakterisierte die massenmedial übliche Sprach- und Sichtweise jüngst
mit folgenden Worten: „Die Sprache des Marktes dringt heute in alle
Poren ein und preßt alle zwischenmenschlichen Beziehungen in das
Schema der selbstbezogenen Orientierung an je eigenen Präferenzen.“)
Am
Beispiel der Gegenüberstellung unserer beider Protagonisten können
wir die Erkenntnis nachvollziehen, daß divergierende Weltsichten
dennoch und durchaus zu konvergierendem Denken und Handeln führen können
(nicht unbedingt müssen!). Wir können lernen es zu ertragen, es
auszuhalten (nämlich: zu tolerieren), daß Wahrheit und Wirklichkeit
so und auch anders gedeutet werden können, mehr noch: daß sie immer
auch ganz anders möglich sind.
Und
die Moral von der Geschicht? Das Fazit des Falles
„Bonhoeffer/Camus“?
(1)
Er macht exemplarisch plausibel, daß es Arten der Lebens- und
Weltzuwendung gibt, die gegen jede Schematisierung und
Stereotypisierung sich sperren.
(2)
Er dokumentiert, daß es Arten des Glaubens gibt, die bei und trotz
intensiver subjektiver Gewißheit andere Denkmöglichkeiten offensiv
akzeptieren.
(3)
Er konkretisiert, daß und wie Welt-Anschauung (und zwar persönliche
wie insitutionalisierte) jeweils auch ganz anders sich vollziehen
kann.
(4)
Er demonstriert, daß es konvergente ethische Entscheidungen und
Konsequenzen bei und trotz divergenter weltanschaulicher Begründung
und Verankerung gibt.
(5)
Er konfrontiert mit z. T. diametral verschiedenen Weltdeutungsmustern,
denen sich tangierende Handlungsmuster entsprechen.
Er
macht die Segmente einer aktiven Toleranz transparent, und es ist das
Spezifische dieser Toleranz, daß es ihr um die Befreiung von
Dogmatismus und Engstirnigkeit jedweder Couleur als Vorbedingung für
Eigenständigkeit in Existenz, Erkenntnis, Ethik geht. Kurz: um die
Entwicklung zu konstruktiver Autonomie als Basis einer produktiven
Toleranz – und umgekehrt. In Pfade in Utopia schrieb Martin
Buber: „Man muß bei sich selbst gewesen sein, um zum andern
ausgehen zu können.“ Eine solche Toleranz ist zugleich das
Gegenteil religiöser Indifferenz und religiöser Gewohnheitsexistenz.
Insofern möchte ich an Martin Buber mit Elie Wiesel anschließen:
„Gut, ich bin als Jude geboren, aber jeden Tag entscheide ich mich
von neuem für meine Religion, erwähle ich mich abermals. Desgleichen
kann sich der Katholik, der Moslem, der Buddhist, der Agnostiker oder
der Atheist zu seinen Überzeugungen bekennen. Das ist eine Frage des
Respekts. Ich achte den Anderen für das, was er ist, wünscht und tut
– natürlich unter der Voraussetzung, daß er mich ebenfalls
achtet.“
Toleranz
kann nicht per Edikt dekretiert werden; sie muß be-griffen, um
realisiert werden zu können.
Nur dann hat unsere Zukunft eine Chance. Die Menschen werden gemeinsam
überleben – oder gar nicht. Insofern sind Toleranz und Offenheit,
Dialogizität und solidarische Existenz, Verbündung und Kooperation
mit vermeintlichen Gegnern unerläßliche Vorbedingung für
„unsere“ Zukunft als die Zukunft der „anderen“ – und
umgekehrt.
Auf
dem Weg dahin stoßen wir auf einen Anfang dieses Jahrhunderts in
Breslau/Wroclaw geborenen Theologen und einen nur wenig später in
Mondovi (Algerien) geborenen Schriftsteller und ihr eigen- und
einzigartig ermutigendes Zwiegespräch.
Zu
einer wirklichen „Kooperation“ zwischen Christen und
Nicht-Christen, wie Bonhoeffer sie 1943 forderte, zu einem wirklichen
„Zwiegespräch“, wie Camus es 1946 mit den Christen zu führen
erhoffte, kam es zu ihrer Zeit jedoch noch nicht. Aber ihre Erwartung
der Welt an die zukünftige Kirche entsprach einander. Bonhoeffer
konnte sie nur kontrastieren mit der Schuld, die er 1940
stellvertretend für seine Kirche rückhaltlos bekannte: „Sie war
stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen
zum Himmel schrie. Sie hat das rechte Wort in rechter Weise zu rechter
Zeit nicht gefunden... Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung
brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger
Unschuldiger, Unterdrückung, Haß und Mord gesehen zu haben, ohne
ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu
Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten
und wehrlosesten Brüder Jesu Christi.“
Der
Kreis schließt sich. Zum Schluß meines Vortrages nämlich komme ich
zum Schluß meines Buches. Er lautet: „... durch die Nähe dieser
Aussagen findet sich auch die Antwort auf die Frage des Anfangs ...
bestätigt: Bonhoeffer oder Camus? Bonhoeffer und
Camus!“
© S. Dramm, november 2001. |